Zur männlichen Beschneidung

Im Mai 2012 hat das Landgericht Köln eine religiös motivierte Knabenbeschneidung für rechtswidrig erklärt, die von einem Arzt an einem vierjährigen muslimischen Jungen mit Einwilligung seiner Eltern vorgenommen worden war. Auf den ersten Blick scheint dieses Urteil die Religionsfreiheit der Eltern zu verletzen. Wer genauer hinsieht, erkennt hingegen, dass die Kölner Richter ein Ausrufezeichen hinter Kinderrechte gesetzt und diese gestärkt haben. Denn sie haben nicht das Interesse der Eltern gelten lassen, die körperliche Unversehrtheit des Kindes einem religiösen Ritus zu opfern.

Eingeschränkt haben sie damit das elterliche Erziehungsrecht. Da es vom Grundgesetz geschützt wird, dürfen Eltern sehr weitreichende Entscheidungen treffen, wenn es um die Lebensgestaltung ihres Kindes geht. Erzählen sie ihm etwa, dass der Mensch mit der Entwicklung von Affen nichts gemein habe und die Erde von Gott vor wenigen tausend Jahren erschaffen worden sei, dann hat der Staat dies trotz moderner Erkenntnisse der Evolutionsbiologie und Radiokarbonmethode zu tolerieren (sind die Eltern allerdings Lehrer, die ihre religiöse Überzeugung zugleich in der Schule propagieren, dann darf der Staat dies nicht zulassen). Das gilt selbst dann, wenn Eltern ihrem Kind täglich fettiges Fastfood kaufen, es den ganzen Tag vor den Fernseher setzen und Trickfilme sehen lassen oder ihm anderweitig Bildung vorenthalten, es etwa kein Musikinstrument lernen darf oder sie ihm keine Bücher kaufen. Sicher, dem Kindeswohl ist dies alles nicht wirklich zuträglich. Es werden dadurch aber auch nicht unmittelbar Grundrechte des Kindes verletzt.
Anders fällt die Beurteilung aus bei körperlichen Verletzungen: Nicht tolerieren darf der Staat, wenn etwa ein Vater unter Berufung auf die Bibel (etwa Sprüche 13, 24) sein Kind schlägt, um es bibelgemäß zu erziehen. Dies wäre nicht vom elterlichen Erziehungsrecht gedeckt. Dies gilt erst recht für religiöse Beschneidungen. Mit ihrer Entscheidung haben die Richter des Landgerichts Köln eigentlich eine Selbstverständlichkeit betont: Wenn es um die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit geht, muss elterliche Erziehung dem Kindeswohl dienen, selbst bei religiösen Bräuchen.

Bei unvoreingenommener Betrachtung lässt sich nicht ernsthaft bestreiten, dass es nicht dem Kindeswohl entspricht, Jungen ohne medizinische Notwendigkeit einen gesunden und sensiblen Teil ihres Körpers irreversibel abzutrennen, zumal dies einen spürbaren Sensibilitätsverlust zur Folge hat, sie Schmerzen sowie unnötigen Risiken ausgesetzt werden und der Eingriff, jedenfalls im Kindesalter, keinerlei gesundheitliche Vorteile mit sich bringt.

Die Beeinträchtigung des Kindeswohls lässt sich auch nicht mit dem Einwand ausräumen, dass eine Beschneidung dem seelischen Wohl des Kindes diene, indem eine Ausgrenzung innerhalb des jeweiligen religiös gesellschaftlichen Umfeldes vermieden werde. Wer diesem Aspekt Gewicht zuerkennt, müsste ihn auch – jedenfalls mit Blick auf leichte Formen – für die weibliche Genitalverstümmelung gelten lassen. Abgesehen davon ist es mit unserer rechtsstaatlichen Verfassung nicht vereinbar, Religionsgemeinschaften schrankenlos die Deutungshoheit darüber zuzubilligen, was identitätsstiftend ist.

Widerspricht die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit dem Kindeswohl, lässt sie sich auch nicht über die Religionsfreiheit der Eltern rechtfertigen. Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang nämlich, dass neben dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit zudem das (religiöse) Selbstbestimmungsrecht des Kindes verletzt wird. Denn es wird mit einem unabänderlichen religiösen Zugehörigkeitsmerkmal versehen. Zwar ist es trotz einer Beschneidung möglich, später die Religion zu wechseln. Nichtsdestoweniger bedeutet die religiöse Beschneidung für den Betroffenen lebenslange Kennzeichnung.

Die Einstufung der religiösen Beschneidung an Jungen als rechtswidrig ist mitnichten religionsfeindlich. Es geht nicht darum, religiöse Riten per se zu verbieten. Schon jetzt gibt es Muslime und Juden, die anstelle der Beschneidung zu unblutigen Alternativen greifen oder den Eingriff verschieben, ohne dass dies ihrer religiösen Zugehörigkeit oder ihrem Selbstverständnis abträglich wäre. Abgesehen davon haben sich zahlreiche biblische Ge- und Verbote gewandelt und werden nicht mehr wörtlich genommen. Es ist Religionsgemeinschaften in einem Rechtsstaat zuzumuten, Alternativen selbst für uralte Bräuche zu suchen, soweit sie die körperliche Unversehrtheit von Kindern verletzen.

Erinnert sei auch daran, dass Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention unter-zeichnet und das Recht auf gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert hat. Es wäre ein Rückschritt, religiöse Beschneidungen von Jungen zu legalisieren, nicht zu reden von der Gefahr, damit anderen religiösen Bräuchen eine Legitimation zu verschaffen, etwa leichten Formen der Mädchenbeschneidung. Fortschrittlich ist hingegen das Urteil des Landgerichts Köln, weil es Kinder und deren Rechte in den Vordergrund gestellt hat.

Zu unserem Rechtsstaat gehört zweifellos religiöse Toleranz. Deshalb ist es richtig, dass die Religionsausübung staatlichen Schutz genießt. Genauso zählt dazu aber die Solidarität mit Schwächeren. Die Freiheit der Religionsausübung endet dort, wo die körperliche Unversehrtheit von Kindern verletzt wird. Deshalb ist der Staat verpflichtet, auch Jungen vor rituellen Beschneidungen zu bewahren und sie erst zu erlauben, wenn die Entscheidung von den Betroffenen selbstbestimmt getroffen werden kann. Der Schutz von Kinderrechten ist nämlich nicht verhandelbar!

Prof. Dr. iur. Holm Putzke