„Ein Armutszeugnis für die deutsche Politik“
Rede von Michael Schmidt-Salomon auf der Demo gegen Genitalverstümmelung am 07. Mai 2017 in Köln
Vor 5 Jahren, nach dem berühmten Kölner Urteil, hatte die deutsche Politik die historische Chance, ein starkes, internationales Zeichen gegen Genitalverstümmelung und für Kinderrechte zu setzen. Wie Sie wissen, haben unsere Parlamentarier damals kläglich versagt. Einen maßgeblichen Anteil daran hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel, die gleich zu Beginn der Diskussion die Richtung der politischen Debatte vorgab, als sie erklärte, dass sich Deutschland zu einer „Komiker-Nation“ machen würde, falls ein Verbot der Knabenbeschneidung ernsthaft erwogen würde.
In der Folgezeit wollten die meisten Politiker gar nicht hören, dass es sich bei der Beschneidung keinesfalls um eine Bagatelle handelt, wie so oft behauptet wurde, sondern um einen „risikoreichen, schmerzvollen, mitunter traumatisierenden Eingriff, der mit der irreversiblen Amputation eines hochsensiblen, funktional nützlichen Körperteils verbunden ist“. Damals zeigte sich deutlich, dass auch deutsche Politiker hin und wieder eine starke Neigung verspüren, wissenschaftliche Tatsachen zu ignorieren und auf „alternative Fakten“ zurückzugreifen.
Und so wurde im Deutschen Bundestag am 12.12.2012 entschieden, das Bürgerliche Gesetzbuch um einen Paragraphen zu erweitern, der die „elterliche Sorge“ so eigentümlich definiert, dass sie auch den Tatbestand der Körperverletzung miteinschließt. Dank § 1631d BGB haben Eltern in Deutschland nun verbis expressis ein Anrecht darauf, die Vorhäute ihrer Söhne ohne medizinische Gründe amputieren zu lassen. Dass dies mit dem in der Verfassung garantierten Recht auf körperliche Unversehrtheit nicht in Einklang zu bringen ist, liegt auf der Hand.
Offenbar gefiel es den Parlamentariern nach diesem Meisterstück, den juristischen Irrsinn noch ein Stückchen weiter zu treiben: Nur ein halbes Jahr, nachdem sie verfügt hatten, dass man an den Genitalien von Jungs nach Belieben herumschneiden darf, erließen sie ein Gesetz, das Derartiges bei Mädchen strikt untersagt. Der im Juni 2013 beschlossene § 226a StGB besagt, dass jeder, der weibliche Genitalien verstümmelt, mit empfindlichen Freiheitsstrafen zu rechnen hat – und zwar selbst in sogenannten „minder schweren Fällen“, die nachweislich weniger dramatisch sind als die üblichen Vorhautamputationen bei Jungen.
Nun kann man dieses neue Strafgesetz als klares Zeichen gegen weibliche Genitalverstümmelung begrüßen, aber die Tatsache, dass die männliche Genitalverstümmelung gleichzeitig ausdrücklich erlaubt ist, verstößt natürlich gegen den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung. Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts sind in Deutschland nun einmal verboten – und das gilt selbstverständlich auch in jenen Fällen, in denen ausnahmsweise die Träger von XY-Genen zu Opfern sexistischer Diskriminierung werden.
Der Schildbürgerstreich der Parlamentarier ging allerdings weiter: Indem sie per Gesetz erklärten, dass Eltern die absolute Verfügungsgewalt über die Vorhäute ihrer Söhne haben, untergruben sie nicht zuletzt auch die Argumentation gegen die weibliche Genitalverstümmelung. Denn es sind letztlich dieselben Argumente, die gegen die Missachtung der genitalen Selbstbestimmungsrechte von Mädchen und Jungen sprechen. Es ist leider so: Wer Eltern das Recht einräumt, aufgrund von archaischen Religionsvorschriften die Genitalien ihrer Söhne zu verstümmeln, der kann keine guten rechtsstaatlichen Argumente, sondern nur noch sexistische Gründe (im Sinne von „Männer weinen nicht!“) dafür angeben, warum er dieses „Recht“ im Falle der Töchter konsequent verweigert.
Zudem darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, dass es nur in solchen Gegenden zu weiblichen Genitalverstümmelungen kommt, in denen männliche Genitalverstümmelung gängige Praxis ist. Daher würde eine konsequente Ächtung der Knabenbeschneidung auch zu einem Rückgang der weiblichen Genitalbeschneidung führen, was jährlich Abertausenden von Mädchen und Jungen großes Leid ersparen und nicht wenigen von ihnen das Leben retten würde.
Wer diese internationale Dimension des Problems vor Augen hat, der weiß, dass das deutsche Beschneidungsgesetz nicht nur gegen die Verfassung verstößt, sondern (insbesondere auf globaler Ebene) katastrophale Folgen nach sich zieht! Wie auch könnte man glaubhaft gegen Genitalverstümmelungen vorgehen, wenn man diese bei wehrlosen Jungen ausdrücklich erlaubt?! Es ist und bleibt daher ein Armutszeugnis für die deutsche Politik, dass vor 5 Jahren nur so wenige Parlamentarier bereit waren, dem klaren Votum des Kölner Urteils zu folgen!
Niemals hätten die deutschen Politiker den Schutz der körperlichen Unversehrtheit des Kindes religiösen Interessen unterordnen dürfen. Denn damit haben sie nicht nur die Rechte der Kinder verraten, sondern auch bewiesen, dass ihnen sowohl der Mut als auch die Weitsicht fehlt, um die offene Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen. Schließlich darf ein moderner Rechtsstaat unter gar keinen Umständen den Eindruck aufkommen lassen, dass die Religionen in irgendeiner Weise über dem Gesetz stünden. Vielmehr muss er sicherstellen, dass seine Rechtsnormen für alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen gelten, was bedeutet, dass Grundrechtsverstöße selbstverständlich auch dann zu ahnden sind, wenn sie mit Jahrtausende alten „heiligen Traditionen“ begründet werden.
Die Frage bleibt: Was können wir, die wir uns mit diesem Irrsinn nicht abfinden wollen, unternehmen? Nun, es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als die Bevölkerung weiter aufzuklären und für eine Einsicht zu werben, die in einer zivilisierten Gesellschaft niemand ernsthaft bestreiten sollte, nämlich, dass auch Kinder Rechte haben und Eltern die Genitalien ihrer Kinder gefälligst in Ruhe lassen sollten.
Religiös begründete Beschneidungen sollten erst in einem Alter erfolgen, in dem die Betroffenen selbst entscheiden und die Folgen des Eingriffs abschätzen können. Dass dieser Vorschlag von religiösen Kräften so vehement abgelehnt wird, ist leicht zu verstehen. Schließlich müssen sie davon ausgehen, dass die allermeisten Jugendlichen sich der schmerzhaften Prozedur der Beschneidung gar nicht unterziehen würden, wenn man ihnen die freie Wahl ließe. Besser lässt sich gar nicht verdeutlichen, wie sehr die gegenwärtige Praxis die individuellen Selbstbestimmungsrechte missachtet.
Es ist zu hoffen, dass dies auch den Damen und Herren in der Politik allmählich bewusst wird. Helfen könnte dabei, dass die Rechte der Kinder nun erstmals ausdrücklich im deutschen Grundgesetz verankert werden sollen. Bislang tauchen Kinder dort nicht als eigene Rechtssubjekte auf, sondern bloß als Rechtsobjekte ihrer Eltern. Vielleicht trägt die juristische Aufwertung der Kinderrechte dazu bei, dass die Absurdität des Beschneidungsgesetzes deutlicher zutage tritt. Zwingend ist dies jedoch leider nicht, da unsere Politiker offenkundig ein ganz besonderes Talent dafür besitzen, logische Widersprüche zu ignorieren. Andernfalls nämlich müssten wir hier gar nicht stehen und für fundamentale Rechte streiten, die in einer offenen Gesellschaft eigentlich selbstverständlich sein sollten…