Sollten Ärzte und Ärztinnen Beschneidungen an Jungen durchführen?
Bevor die juristische Debatte zur Legalität der Beschneidung von Jungen entschieden ist und bevor ärztliche Standesorganisationen hierzu eine abschließende Position gefunden haben, sollten Ärzte und Ärztinnen zu einer nicht nur juristisch, sondern auch ethisch soliden Entscheidung kommen. Denn jeder Arzt und jede Ärztin, an die der Wunsch nach der Beschneidung eines Säuglings oder Kindes herangetragen wird, muss eine Entscheidung treffen, die er oder sie langfristig vor seinem individuellen Gewissen verantworten kann.
Die moderne Medizinethik, die auch an deutschen Universitätskliniken Teil der Medizinerausbildung ist, basiert auf vier gleichrangigen Prinzipien, über die ein breiter Konsens besteht, da sie nicht auf einer Religion oder einer spezifischen Weltanschauung basieren, sondern allein auf der Anerkennung von Menschenrechten. Diese vier Prinzipien lauten: Respekt vor der Autonomie des Patienten, Nonmalefizienz (Nichtschaden), Benefizienz (Wohltun) und Gerechtigkeit. Durch Anwendung, Auslegung und gegenseitiges Abwägen dieser vier Prinzipien lassen sich allgemeine und konkrete Probleme der ärztlichen Praxis ethisch analysieren, insbesondere die Frage der Beschneidung von Jungen.
Säuglinge und kleine Kinder haben noch keine Autonomie; dennoch ist zu antizipieren, dass sie mit dem Heranwachsen Autonomie erreichen werden. Zu respektieren ist aber ihre zukünftige Autonomie, d. h., dass die Entscheidungsfreiheit, die sie später von Natur aus haben werden, nicht durch Eingriffe beschnitten werden darf, bevor die Kinder autonom sind,. Zum Selbstbestimmungsrecht gehört insbesondere das Recht, über den eigenen Körper zu entscheiden. Führt man irreversible Modifikationen am Körper des Kindes durch, verletzt man damit das Recht des Kindes, selbst über derartige Körpermodifikationen zu entscheiden. Somit untersagt das Prinzip des Respekts vor der Patientenautonomie Ärzten und Ärztinnen, irreversible Körpermodifikationen an Säuglingen und Kindern durchzuführen. Dieses Prinzip tritt nur dann in den Hintergrund, wenn andere Prinzipien klar überwiegen, beispielsweise wenn ein Kind eine so schwere Verletzung einer Gliedmaße erleidet, dass nur noch eine Amputation sein Leben retten könnte.
Aus der Anerkennung von Kindern als Menschen mit vollen Menschenrechten folgt, dass Kinder nicht als Eigentum ihrer Eltern gelten, über die diese nach eigenem Gutdünken verfügen dürfen. In Rechtsstaaten haben Eltern nicht das Recht, Kinder nach ihrem Bild oder ihren Idealvorstellungen zu formen. Zwar haben Erziehungsberechtigte das Recht und die Pflicht, Entscheidungen über medizinische Therapien von Kindern zu treffen, aber dieses Recht endet da, wo in die Rechte des Kindes eingegriffen würde, insbesondere wo das Recht des Kindes auf spätere Autonomie verletzt würde. Erziehungsberechtigte haben die Pflicht, Kindern die bestmöglichen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sie später eigenständige Entscheidungen treffen können. Da Genitalbeschneidungen sich nicht mehr revidieren lassen und die Optionen des Kindes einschränken, sind sie in Hinblick auf das Prinzip Respekt vor der Patientenautonomie nicht zu rechtfertigen. Aus diesem Grund kann für Ärzte der Wunsch von Eltern nach einer irreversiblen Körpermodifikation eines Kindes keine Rechtfertigung dafür sein, eine Einschränkung der Autonomie des Kindes vorzunehmen. Die Beweggründe der Eltern dürfen für Ärzte keine Rolle spielen; der Wunsch nach religiös begründeten Vorhautamputationen ist in dieser Hinsicht nicht anders zu beurteilen als der Wunsch von Tattoo-Fans nach Tätowierung ihrer Kinder.
Das Prinzip der Nonmalefizienz, also des Nicht-Schadens, untersagt medizinische Eingriffe, die dem Patienten schaden könnten, sofern sie nicht gerechtfertigt sind, um Krankheiten zu heilen, zu lindern, oder einen vorzeitigen Tod abzuwenden, und sofern der Nutzen des Eingriffs die Schäden und Risiken nicht überwiegt. Da eine Beschneidung grundsätzlich eine schmerzhafte Verletzung ist, die zudem ein Risiko von Komplikationen (Blutungen, Entzündungen, Nervenverletzungen, psychische Traumata) beinhaltet, und im Fall von Vollnarkose noch das Narkoserisiko beinhaltet, wären Beschneidungen nur dann ethisch vertretbar, wenn sie geeignet wären, eine Krankheit des Kindes zu heilen, zu lindern oder seinen vorzeitigen Tod zu verhindern. Daher kann eine Beschneidung zwar in Einzelfällen bei strenger medizinischer Indikation gerechtfertigt sein, aber eine religiöse Indikation kann es grundsätzlich nicht geben.
Nach dem Benefizienz-Prinzip können medizinische Eingriffe gerechtfertigt sein, wenn sie die Gesundheit oder das Wohlergehen des Patienten fördern, sofern nicht andere Prinzipen dagegen stehen. Da eine Genitalbeschneidung für ein Kind keinen gesundheitlichen oder psychischen Nutzen hat (mit Ausnahme der Fälle, in denen es eine klare medizinische Indikation gibt), ist sie medizinethisch nicht zu rechtfertigen. Ein eventueller Nutzen im Erwachsenenalter (z. B. Anpassung an die gesellschaftliche Norm, religiöse Normenbefolgung, Hoffnung auf geringere Risiken für sexuell übertragbare Krankheiten) kann nicht die Beschneidung im Kindesalter, sondern frühestens in der Pubertät rechtfertigen.
Schließlich verlangt das Prinzip der Gerechtigkeit die gerechte Verteilung von medizinischen Leistungen. In einem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem folgt aus diesem Prinzip u.a., dass medizinische Leistungen, die nicht medizinisch indiziert sind, nicht von der Solidargesellschaft bezahlt werden müssen. Körpermodifikationen aus ästhetischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen – beispielsweise Implantationen von Silikon, Fettabsaugung und Genitalbeschneidungen – sind daher nicht von den Krankenkassen zu finanzieren. Rechnen Ärzte und Ärztinnen religiös motivierte Beschneidungen mit den Krankenkassen ab (indem sie sie fälschlicherweise als medizinisch indiziert ausgeben), verstoßen sie gegen das Prinzip der Gerechtigkeit und machen sich des Versicherungsbetrugs strafbar.
S. M., Berlin