FAQ

Fragen und Antworten zur Knabenbeschneidung

Vorbemerkung: Heiße Eisen sollten mit kühlem Kopf behandelt werden. Die Knabenbeschneidung ist zweifellos ein solches „heißes Eisen“. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die öffentliche Debatte so erregt geführt wurde. Beschneidungsbefürworter unterstellten Beschneidungsgegnern antisemitische/antimuslimische Motive, diese wiederum warfen beschneidungswilligen Eltern vor, lieblos zu sein und die Qualen ihrer Kinder zu ignorieren.

Wir sind überzeugt, dass eine solche Form der Auseinandersetzung kontraproduktiv ist, denn sie verstellt den Blick auf die wahren Motive beider Gruppen und erschwert die Suche nach vernünftigen Lösungen. Bei einem komplexen Thema wie der Knabenbeschneidung sollten nicht Unterstellungen, sondern rationale Argumente den Ausschlag geben. Leider aber ist das Wissen über die tatsächlichen Folgen der Vorhautbeschneidung nur wenig verbreitet. Wüssten Eltern über diese Konsequenzen Bescheid, müsste man über ein Beschneidungsverbot wohl gar nicht mehr diskutieren, da die meisten Mütter und Väter von sich aus den Gedanken verwerfen würden, ihre Kinder beschneiden zu lassen. Mit anderen Worten: Das Hauptproblem der gegenwärtigen Debatte liegt in der fehlenden Aufklärung über das Thema bzw. in der gezielten Desinformation der Eltern. Dem möchten wir mit der folgenden Auflistung zentraler Fragen und Antworten entgegenwirken.

1. Welche Gründe sprechen gegen die medizinisch nicht indizierte Knabenbeschneidung?

2. Ist die Vorhautbeschneidung nicht bloß eine Bagatelle – vergleichbar mit dem Stechen von Ohrringen?

3. Ist eine Beschneidung im Säuglingsalter weniger traumatisch als eine spätere Beschneidung?

4. Ist die Vorhaut nicht ähnlich überflüssig wie die Mandeln oder der Blinddarm? Kann man nicht problemlos auf sie verzichten?

5. Ist eine Vorhautbeschneidung aus hygienischer Sicht sinnvoll? Kann sie Krankheiten verhindern?

6. Welche Komplikationen können bei der Vorhautbeschneidung auftreten?

7. Kann die männliche Zwangsbeschneidung mit der weiblichen Genitalbeschneidung verglichen werden?

8. Wenn die Beschneidung dem Kindeswohl eher schadet als nutzt, warum wird der Eingriff in den USA noch immer routinemäßig durchgeführt?

9. Warum äußern sich so wenige beschnittene Männer über die negativen Folgen der Beschneidung und weshalb lassen sie es so häufig zu, dass ihre eigenen Söhne beschnitten werden?

10. Würde ein Verbot der Knabenbeschneidung die Eltern nicht in unzulässiger Weise entmündigen?

11. Wäre ein Beschneidungsverbot mit einem Eingriff in die Religionsfreiheit verbunden?

12. Ist es nicht problematisch, dass die Beschneidungsdebatte ausgerechnet auf deutschem Boden geführt wird?

13. Würde ein offizielles Verbot der rituellen Knabenbeschneidung nicht zwangsläufig zu einem Anstieg gefährlicher illegaler Beschneidungen führen?

14. Ist die Debatte um die Beschneidung nicht Ausdruck eines „aggressiven Säkularismus“, der die Rechte religiöser Minderheiten missachtet? Beweist nicht gerade das Engagement der Giordano-Bruno-Stiftung, dass es hier gar nicht um Kinderrechte geht, sondern um einen fundamentalistischen Kampf gegen die Religion?

Anmerkungen

Nachtrag zum Thema „HIV und Beschneidung“

Nachtrag zum Thema „Smegma“

Nachtrag zur Studie der „American Academy of Pediatrics“

1. Welche Gründe sprechen gegen die medizinisch nicht indizierte Knabenbeschneidung?

Bei der Vorhautbeschneidung handelt es sich, wie wir weiter unten ausführlicher darlegen werden, um einen risikoreichen, schmerzvollen, mitunter sogar traumatisierenden Eingriff, der mit der irreversiblen Amputation eines hochsensiblen, funktional nützlichen Körperteils verbunden ist. Ein solcher Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht und die körperliche Unversehrtheit des Kindes lässt sich über das elterliche Erziehungsrecht nicht rechtfertigen. Ob das Beschneidungsinteresse der Eltern dabei auf religiöse, traditionelle, vermeintlich hygienische oder ästhetische Motive zurückgeht, ist gleichgültig. Nur in den seltenen Fällen, in denen die Vorhautbeschneidung medizinisch erforderlich ist, kann sie legitim sein.

In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass unter Kinderärzten in den letzten Jahren ein entschiedenes Umdenken in Sachen Beschneidung stattgefunden hat. Wurde früher bei Phimose (Vorhautverengung) sehr schnell beschnitten, warten Ärzte heute ab, ob sich das „Problem“ (eigentlich ein entwicklungsphysiologisch normaler Zustand, der erst ab der Pubertät Probleme aufwerfen kann) von selbst löst (was meist der Fall ist). Ansonsten werden sanftere Heilmethoden angewandt (Salben, Dehnung der Vorhaut etc.). Die teilweise oder gar vollständige Entfernung (Amputation) der Vorhaut ist aufgrund ihrer weitreichenden Folgen nur dann angezeigt, wenn alle anderen Therapieversuche gescheitert sind.

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2. Ist die Vorhautbeschneidung nicht bloß eine Bagatelle – vergleichbar mit dem Stechen von Ohrringen?

Dieser Vergleich ist in mehrfacher Hinsicht zurückzuweisen: Denn erstens ist die Vorhautbeschneidung mit ungleich stärkeren Schmerzen verknüpft als das Stechen von Ohrringen. Zweitens werden bei der Zirkumzision rund 50 Prozent der gesamten Penishaut irreversibel entfernt, was rein quantitativ allenfalls mit einer Amputation der Ohrläppchen vergleichbar wäre und wohl niemand seinen Kindern zumuten würde. Drittens ist die Vorhaut qualitativ mit den Ohrläppchen überhaupt nicht zu vergleichen, da es sich bei der Vorhaut um das sensibelste Gewebe des männlichen Körpers handelt. Viertens werden durch das Ohrringstechen im Unterschied zur Beschneidung keine wichtigen biologischen Funktionen des Körpers beeinträchtigt (siehe Frage 4). Und fünftens werden Ohrringe in der Regel nur auf den ausdrücklichen Wunsch der Kinder hin gestochen – ansonsten ist auch dieser Vorgang problematisch, wenn auch längst nicht so problematisch wie eine Genitalbeschneidung.

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3. Ist eine Beschneidung im Säuglingsalter weniger traumatisch als eine spätere Beschneidung?

Muslime, die im Schulkindalter beschnitten wurden, haben oft traumatische Erinnerungen an das „Fest der Beschneidung“, auch wenn nur wenige den Mut aufbringen, offen darüber zu sprechen. Eine der seltenen Ausnahmen ist der Kölner Ex-Muslim und Piraten-Aktivist Ali Utlu, der seine Beschneidung so beschrieb: „Wir haben uns gewehrt und geschrien, aber sie haben uns zu viert festgehalten. Für mich war das der totale Horror und das hat sich bei mir für immer eingebrannt.“

Da Schulkinder die Schmerzen der Beschneidung sehr bewusst wahrnehmen, raten immer mehr muslimische Ärzte dazu, die Jungen möglichst früh zu beschneiden, was bei der jüdischen Beschneidung ohnehin die Regel ist. Doch ist die im Judentum praktizierte Beschneidung acht Tage alter Säuglinge wirklich weniger traumatisch?

Lange Zeit glaubte man tatsächlich, Säuglinge würden weniger Schmerzen empfinden. Als Indiz hierfür wurde herangezogen, dass manche Neugeborene im Zuge der Beschneidung plötzlich verstummen und zu schlafen scheinen. Heute allerdings weiß man (was allerdings längst noch nicht allgemein bekannt ist), dass sich diese Kinder in einem traumatischen Schockzustand befinden. Denn Neugeborene haben weitaus stärkere Schmerzempfindungen als ältere Kinder oder Erwachsene! Grund: Das schmerzunterdrückende System, das durch Endorphinausschüttungen Schmerzempfindungen erträglicher macht, ist erst Monate nach der Geburt funktionstüchtig.

Der Leiter des Deutschen Kinderschmerzzentrums, Boris Zernikow, wies in einem im August 2012 veröffentlichten SPIEGEL-Gespräch darauf hin, dass sich durch den ungemilderten Beschneidungsschmerz des Säuglings ein spezifisches Schmerzgedächtnis ausbilden kann. Noch Monate nach der Beschneidung empfinden beschnittene Kinder größere Schmerzen bei Impfungen und schütten höhere Mengen des Stresshormons Cortisol aus. Insgesamt ist ihre Schmerzschwelle niedriger und die Gefahr chronischer Schmerzen größer. Tragischerweise kann dies, so Zernikow, durch eine generelle Narkose nicht verhindert werden. Vielmehr müssen die Nervenbahnen, die vom Penis zum Gehirn führen, direkt blockiert werden, was selbst Anästhesisten in guten Kliniken in fünf bis zehn Prozent der Fälle nicht ausreichend gelingt.

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4. Ist die Vorhaut nicht ähnlich überflüssig wie die Mandeln oder der Blinddarm? Kann man nicht problemlos auf sie verzichten?

Zunächst einmal muss man hier feststellen, dass auch die Mandeln und der Blinddarm keineswegs überflüssig sind, weshalb kein vernünftiger Arzt auf den Gedanken käme, diese Organe prophylaktisch zu entfernen, um mögliche spätere Entzündungen zu vermeiden. Eine medizinisch nicht erforderliche Entfernung der Mandeln oder des Blinddarms würde zu Recht als illegitime Körperverletzung gewertet werden. Dies sollte auch für die medizinisch nicht indizierte Vorhautentfernung gelten.

Denn die Vorhaut hat wichtige körperliche Funktionen: Sie dient dem Schutz der Eichel vor Hautabschürfung, Austrocknung, Verhornung und Verunreinigung jeder Art. Anfangs ist sie noch mit der Eichel verklebt, wodurch die Eichel vor Ausscheidungen des Jungen im Säuglings- und Kleinkindalter geschützt wird. Mit der Pubertät wird sie zu einer wesentlichen Quelle männlichen Lustempfindens, denn in ihr laufen rund 20.000 empfindliche Rezeptoren zusammen. Sie sorgen dafür, dass die Vorhaut die sensibelste Region des männlichen Körpers ist, weit sensitiver als etwa die Fingerkuppen oder die Lippen.

Wird die Vorhaut, in der etwa 70 Prozent des sensorischen Gewebes des Penis zu finden ist, entfernt, führt dies unweigerlich zu einem Sensibilitätsverlust. Männer, die im Erwachsenenalter beschnitten wurden und sexuelle Erfahrungen vor dem Eingriff hatten, klagen häufig über massive Einbußen ihres sexuellen Lustempfindens. Andere hingegen empfinden den mit der Beschneidung einhergehenden Sensibilitätsverlust als weniger dramatisch. Nur eine Minderheit stellt eine Verbesserung des Lustempfindens fest. Worauf diese unterschiedlichen subjektiven Einschätzungen zurückzuführen sind, ist noch nicht erforscht. Erwiesen ist aber, dass beschnittene Männern im Alter signifikant häufiger unter Erektionsproblemen und Orgasmus-Schwierigkeiten leiden.

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5. Ist eine Vorhautbeschneidung aus hygienischer Sicht sinnvoll? Kann sie Krankheiten verhindern?

Tatsächlich haben Eltern und Mediziner lange Zeit geglaubt, die Vorhautbeschneidung könnte hygienische Vorteile haben. Dies hing damit zusammen, dass die biologische Funktion des Smegmas, das sich unter der Vorhaut bildet, weitgehend unbekannt war. Beim Smegma handelt es sich nämlich nicht um „unreinen Schmodder“, wie viele meinen, sondern um eine „natürliche Feuchtigkeitscreme“, die vom Körper aktiv gebildet wird und sich in der Evolution als nützlich erwiesen hat: Denn das Smegma hält die Eichel feucht, verhindert Verletzungen, tötet Bakterien ab und dient als Gleitmittel beim Geschlechtsverkehr. Wird die Vorhaut entfernt, kann sich kein Smegma mehr bilden, was zur Verhornung (Keratinisierung) und sensitiven Abstumpfung der Eichel führt.

Wie aber steht es um die gesundheitlichen Vorteile der Beschneidung, die von Beschneidungsbefürwortern immer wieder ins Feld geführt werden? Die Antwort ist erstaunlich eindeutig: Es gibt keine belastbaren Belege für die gesundheitlichen Vorteile der Beschneidung! Alle Studien, die solche Vorteile in der Vergangenheit nachweisen wollten, gelten inzwischen als widerlegt. Dies trifft auch auf die vielzitierte Studie der WHO zu, in der die Weltgesundheitsbehörde Männern (nicht Kindern!) in einigen afrikanischen Ländern (nicht in Deutschland!) anriet, sich beschneiden zu lassen, um das Risiko einer HIV-Ansteckung zu reduzieren. Neuere Überblicksstudien zeigen nämlich, dass beschnittene Männer in den meisten Ländern sogar ein höheres Risiko haben, sich mit HIV zu infizieren, als Männer mit intakter Vorhaut. Die Gründe hierfür sind noch nicht vollständig geklärt. Eine der Ursachen ist aber wohl darin zu sehen, dass beschnittene Männer wegen des erlittenen Sensibilitätsverlusts seltener Kondome benutzen. (Viele berichten, dass sie mit Kondom beim Geschlechtsverkehr kaum noch etwas spüren.) Indem sie Kondome eher meiden, erhöht sich nicht nur ihr Infektionsrisiko, es ist auch wahrscheinlicher, dass sie andere anstecken und somit zur Ausbreitung von Epidemien beitragen. (Im Übrigen erhöht sich das HIV-Ansteckungsrisiko auch unmittelbar durch die Beschneidung, nämlich dann, wenn der Eingriff unter hygienisch bedenklichen Bedingungen stattfindet, was in den von HIV am stärksten betroffenen Regionen häufig der Fall ist.)

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6. Welche Komplikationen können bei der Vorhautbeschneidung auftreten?

Selbst unter idealen medizinischen Bedingungen treten nach Angaben des renommierten deutschen Kinderurologen Maximilian Stehr bei jedem fünften Säugling Probleme nach der Operation auf. Diese sind zum Teil so schwerwiegend, dass noch einmal nachoperiert werden muss. Dabei geht es vor allem um Nachblutungen, Infektionen, Geschwüre sowie um Verengungen der Harnröhrenöffnung. Verletzungen der Eichel sind keine Seltenheit, selbst Amputationen des Gliedes sind in Deutschland vorgekommen.

Zu den direkten Komplikationen der Beschneidung kommen die indirekten hinzu, etwa die Risiken, die mit Narkose- und Betäubungsmitteln einhergehen. Leider werden solche Fälle bislang nicht systematisch dokumentiert. Einige dramatische Einzelfälle sind aber bekannt. So berichtete Stehr von einem Jungen, der 2001 infolge von Sauerstoffmangel nach der Narkose Hirnschäden erlitt und seither schwerstbehindert ist. Der Autor Mario Lichtenheldt wies in seinem Buch „un-heil. Vorhaut, Phimose & Beschneidung“ auf einen zweiten deutschen Fall hin, bei dem 2006 ein Junge unmittelbar nach seiner Beschneidung starb. Bei dem damals Vierjährigen war es in der Aufwachphase aus der Narkose zu Komplikationen gekommen, woraufhin ihm die behandelnde Ärztin eine viel zu hoch dosierte und letztlich tödliche Glukoseinfusion verabreichte.

In Industrienationen geht die größte Lebensgefahr für beschnittene Jungen allerdings von Infektionen (etwa mit MRSA) aus. Eine Studie aus dem Jahr 2010 kam zu dem Ergebnis, dass allein in den USA jährlich 117 Säuglinge infolge von Infektionen nach der Beschneidung sterben. In Staaten mit schlechterer medizinischer Versorgung ist die Zahl der Jungen, die eine medizinisch unnötige Genitalbeschneidung mit dem Leben bezahlen müssen, jedoch noch um ein Vielfaches höher. Zwar ist die weltweite Mortalitätsrate der Knabenbeschneidung schwer abzuschätzen, aber wir müssen davon ausgehen, dass Jahr für Jahr einige tausend Jungen die Folgen des Eingriffs nicht überleben.

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7. Kann die männliche Zwangsbeschneidung mit der weiblichen Genitalbeschneidung verglichen werden?

Selbstverständlich – und es ist vielleicht der größte Skandal der gegenwärtigen Debatte, dass dieser Vergleich so weitgehend tabuisiert ist! Zwar ist die Infibulation, also das Vernähen der Vagina nach der Entfernung der äußeren Klitoris und der Schamlippen, dramatischer als die Knabenbeschneidung, aber es gibt auch Formen, die nachweislich „harmloser“ sind, z.B. die Entfernung der Klitorisvorhaut oder das bloße Einstechen oder Einritzen derselben. Schließlich ist bekannt, dass die männliche Vorhaut im Vergleich zur weiblichen etwa doppelt so viele Nervenenden aufweist und physiologisch eine weit größere Bedeutung hat.

Es ist daher nicht einzusehen, warum die männliche Vorhautbeschneidung toleriert wird, während sämtliche Formen der weiblichen Genitalbeschneidung – auch die „milderen“ Varianten – international geächtet werden. Würde der Gesetzgeber die körperliche Unversehrtheit der Mädchen schützen, die körperliche Unversehrtheit der Jungen jedoch opfern, so wäre dies ein klarer Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter. Auch bestünde die Gefahr, dass hierdurch die Argumentation gegen die weibliche Genitalbeschneidung untergraben würde. Denn sämtliche Argumente, die heute gegen die weibliche Genitalbeschneidung vorgebracht werden, sprechen auch gegen die männliche Genitalbeschneidung.

Zudem ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass Mädchen nur in jenen Regionen Genitalbeschneidungen erleiden müssen, in denen auch Jungen beschnitten werden. Forscher gehen davon aus, dass die Knabenbeschneidung, die etwa fünf bis sechs Mal häufiger durchgeführt wird, das ältere Ritual ist, von dem die weibliche Genitalbeschneidung später abgeleitet wurde. Deshalb könnte eine Ächtung der Knabenbeschneidung mittelbar auch zu einem Rückgang der weiblichen Genitalbeschneidung führen.

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8. Wenn die Beschneidung dem Kindeswohl eher schadet als nutzt, warum wird der Eingriff in den USA noch immer routinemäßig durchgeführt?

Die Beschneidung von Jungen (zeitweise auch von Mädchen!) in den USA begann vor ca. 150 Jahren. Dabei wurde die Beschneidung zunächst keineswegs als medizinisch-hygienische Maßnahme propagiert, sondern als Methode, Selbstbefriedigung zu erschweren und zu bestrafen. Einer der wichtigsten Impulsgeber der amerikanischen Beschneidungsbewegung war der einflussreiche amerikanische Arzt John Harvey Kellogg, der auch als Miterfinder der nach ihm benannten Cornflakes bekannt wurde. Kellogg, der nicht nur einer der führenden Adventisten seiner Zeit, sondern auch ein rigoroser Verfechter der sexuellen Enthaltsamkeit war , formulierte die Vorteile der Beschneidung wie folgt: „Ein Mittel gegen Masturbation, welches bei kleinen Jungen fast immer erfolgreich ist, ist die Beschneidung. Die Operation sollte von einem Arzt ohne Betäubung durchgeführt werden, weil der kurze Schmerz einen heilsamen Effekt hat, besonders, wenn er mit Gedanken an Strafe in Verbindung gebracht wird. Bei Mädchen ist die Behandlung der Klitoris mit unverdünnter Karbolsäure hervorragend geeignet, die unnatürliche Erregung zu mindern.“

Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass Kellogg die masturbationserschwerenden Folgen der Beschneidung durchaus richtig eingeschätzt hatte. So kam eine 1999 veröffentlichte südkoreanische Studie zu dem Ergebnis, dass die Beschneidung mit einer qualitativen Verschlechterung der sexuellen Befriedigung insbesondere bei der Masturbation verbunden ist. Bei 48 Prozent der befragten Männer sank nach der Beschneidung die Befriedigung bei der Masturbation, bei nur 8 Prozent stieg sie an. 63 Prozent der Betroffenen berichteten zudem, nach dem Eingriff Schwierigkeiten bei der Masturbation zu haben.

Dass die amerikanische Routinebeschneidung ursprünglich als Instrument der Masturbationsprophylaxe gedacht war, wird heute kaum noch bestritten. Erst Jahrzehnte später wurden medizinisch-hygienische Argumente vorgebracht, um den Eingriff zu legitimieren. Da diese Argumente jedoch zunehmend in die Kritik gerieten, ging die Zahl der Beschneidungen in den USA mehr und mehr zurück. Wurden in den 1970er Jahren noch über 90 Prozent der männlichen Säuglinge routinemäßig beschnitten, fallen heute weniger als die Hälfte der Jungen diesem Eingriff zum Opfer. Es ist davon auszugehen, dass die Beschneidungsraten in den nächsten Jahren weiter sinken werden.

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9. Warum äußern sich so wenige beschnittene Männer über die negativen Folgen der Beschneidung und weshalb lassen sie es so häufig zu, dass ihre eigenen Söhne beschnitten werden?

Hier sind verschiedene Gründe zu beachten: Zunächst einmal wissen Männer, die im Säuglingsalter beschnitten wurden, nicht, welcher körperlichen Funktionen sie mit der Entfernung der Vorhaut beraubt wurden. Zudem ist ihnen der Schmerz nicht bewusst, den sie als Säuglinge erlitten haben. Das erste Argument trifft auch auf Männer zu, die erst im Kindesalter beschnitten wurden. Auch sie wissen nicht, wie sich Sexualität mit intakter Vorhaut anfühlt. Immerhin aber erinnern sich viele von ihnen noch an die Schmerzen, die sie im Zuge der Beschneidung empfanden. Weshalb also wollen sie ihren Kindern das gleiche Schicksal zumuten?

In diesem Zusammenhang ist ein psychosozialer Mechanismus zu beachten, den die Psychologin und Kindheitsforscherin Alice Miller bereits in den 1970er Jahren mit bemerkenswerter Klarheit herausarbeitete: Kinder neigen nämlich dazu, objektiv schädigendes Verhalten ihrer Eltern zu rechtfertigen, um das überlebensnotwendige Idealbild ihrer Eltern aufrechterhalten zu können. Kommen sie später selbst in die Elternrolle, ist die Gefahr groß, dass sie das objektiv schädigende Verhalten in der Erziehung ihrer eigenen Kinder wiederholen, um so das Idealbild ihrer Eltern noch einmal bestätigen zu können. Außerdem haben neurowissenschaftliche Forschungen ergeben, dass traumatische Erfahrungen im Kindesalter im Gehirn Spuren hinterlassen, die u.a. die Fähigkeit zur Empathie dauerhaft beeinträchtigen können. Aus diesen Gründen werden traumatische Erfahrungen so häufig von Generation zu Generation weitergegeben.

Besonders schwierig ist es, ein solch objektiv schädigendes Verhalten zu erkennen, wenn es von einer religiösen Tradition eingefordert wird, die für das Individuum identitätsstiftend ist. Schließlich gehört es zu den Grundüberzeugungen jeder Religion, dass sich ihre Götter und Propheten – im Unterschied freilich zu den Göttern und Propheten anderer Religionen – niemals irren! Dies führt dazu, dass religiös motivierte Beschneidungsbefürworter besonders starke Abneigungen haben, sich mit den Erkenntnissen der empirischen Wissenschaften zu beschäftigen, sofern diese im Widerspruch zu den eigenen Glaubensüberzeugungen stehen.

Darüber hinaus sind unter beschnittenen Männern Rationalisierungsstrategien weitverbreitet. Das heißt: Um sich einen möglichen Nachteil durch die Beschneidung nicht eingestehen zu müssen, werden tatsächliche oder vermeintliche Vorteile der Zirkumzision betont, die damit verbundenen Nachteile aber verdrängt. So halten sich beschnittene Männer allgemein für „reiner“, wobei sie allerdings die biologischen Funktionen des vermeintlich „unreinen“ Smegmas ignorieren (siehe Frage 5). Auch sind sie stolz auf ihre größere sexuelle Durchhaltekraft, vergessen aber, dass sie nicht nur länger „können“, sondern eben auch länger „brauchen“, um zum Orgasmus zu kommen, was mit zunehmendem Alter zu echten Problemen führen kann (siehe Frage 4). Zudem behaupten sie, dass sie ihren Sexualpartnerinnen größere Lust spenden können, übersehen dabei aber, dass sie aufgrund des erlittenen Sensibilitätsverlusts im Durchschnitt (das muss keineswegs auf jedes Individuum zutreffen) härtere sexuelle Gangarten bevorzugen, was keineswegs bei allen Frauen auf Gegenliebe stößt.

In diesem Kontext darf eine weitere bedeutsame Rationalisierung nicht vergessen werden: Viele (Männer wie Frauen) glauben, dass man erst durch den bei der Beschneidung erlittenen Schmerz zu einem „richtigen Mann“ wird. („Indianer kennen keinen Schmerz!“). Dieser Männer-Mythos ist zweifellos eine der Ursachen dafür, warum genitalbeschnittene Mädchen gemeinhin als Opfer gesehen werden, Knaben mit gleichem Schicksal jedoch nicht. Sucht man nach den Gründen für die so unterschiedliche Bewertung von weiblicher und männlicher Genitalbeschneidung – hier wird man fündig.

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10. Würde ein Verbot der Knabenbeschneidung die Eltern nicht in unzulässiger Weise entmündigen?

Eine gesellschaftliche Ächtung der medizinisch nicht indizierten Knabenbeschneidung müsste notwendigerweise mit einer breiten Aufklärungskampagne über die Folgen der Zirkumzision einhergehen. Wir sind überzeugt, dass die allermeisten Mütter und Väter, die diese zum Teil recht jungen Forschungsergebnisse zur Kenntnis nehmen, von sich aus nicht mehr auf den Gedanken kommen würden, ihre Kinder beschneiden zu lassen. Ein Verbot würde sie daher nicht entmündigen, sondern vielmehr ihre neu gewonnen Erkenntnisse bestärken.

Wirksam wäre das Verbot jedoch bei jenen Eltern, die wissenschaftliche Erkenntnisse partout nicht wahrnehmen wollen oder sogar wider besseres Wissen gegen das Wohl ihrer Kinder verstoßen. In solchen Fällen müssen die staatlichen Behörden einschreiten und gewährleisten, dass das Wohl des Kindes – auch gegen die widerstrebenden Interessen ihrer Eltern – gesichert wird. Dies ist seit langem gängige Rechtspraxis in allen modernen Verfassungsstaaten. Erfreulicherweise wird dieser Grundsatz in jüngster Zeit auch im Falle der weiblichen Genitalbeschneidung konsequenter verfolgt, womit die staatlichen Behörden den Forderungen der UN-Kinderrechtskonvention nachkommen, in der es heißt: „Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen.“ Aufgrund der großen Parallelen von weiblicher und männlicher Genitalbeschneidung (siehe Frage 7) gibt es keine plausiblen Argumente, warum Jungen nicht ebenso vor überlieferten, gesundheitsschädigenden Bräuchen geschützt werden sollten wie Mädchen.

Im Zusammenhang mit der staatlichen Einschränkung der elterlichen Erziehungsgewalt muss allerdings betont werden, dass der demokratische Rechtsstaat nur in Notfällen einschreiten darf, nämlich wenn das Wohl des Kindes unmittelbar in bedeutsamer Weise geschädigt wird. Das Grundgesetz räumt den Eltern große Freiheiten ein, so dass sie ohne staatliche Einmischung weitreichende Entscheidungen bezüglich der Lebensgestaltung ihrer Kinder treffen können. Erzählen sie ihm etwa, dass der Mensch mit der Entwicklung von Affen nichts gemein habe und die Erde von Gott vor wenigen tausend Jahren erschaffen worden sei, dann hat der Staat dies trotz moderner Erkenntnisse der Evolutionsbiologie und Radiokarbonmethode zu tolerieren. (In Schulen dürfen derartige Fehlinformationen allerdings nicht verbreitet werden.)

So groß der Spielraum der Eltern auch ist: Wenn ein Vater unter Berufung auf die Bibel (etwa Sprüche 13, 24) sein Kind schlägt, um es bibelgemäß zu erziehen, darf der Staat dies nicht dulden. Denn das elterliche Erziehungsrecht umfasst nicht das Recht zur Züchtigung. Was aber ist eine Ohrfeige im Vergleich zu einer Zwangsbeschneidung? Mit ihrem Urteil haben die Richter des Landgerichts Köln, die die Beschneidungsdebatte erst ins Rollen brachten, nur eine Selbstverständlichkeit betont: Da die elterliche Erziehung dem Kindeswohl dienen muss, kann eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes nicht toleriert werden – selbst wenn diese Verletzung mit uralten religiösen Traditionen begründet wird. Ohnehin stellt das Alter einer Tradition keinen plausiblen Grund dar, sie nicht infrage stellen zu dürfen. Im Gegenteil: Je älter solche Traditionen sind, desto notweniger ist ihre Überprüfung, da sie wahrscheinlich nicht im Einklang mit den Menschenrechten stehen, die erst auf einer sehr viel späteren Stufe der kulturellen Evolution formuliert werden konnten.

Dabei ist zu beachten, dass die Entwicklung spezifischer Kinderrechte noch jüngeren Datums ist als die Formulierung allgemeiner Menschenrechte: Erst vor etwa 40 Jahren begann man in Deutschland, Kinder als Rechtssubjekte ernst zu nehmen. Erst seit 1979 werden sie davor geschützt, von Lehrern in der Schule „gezüchtigt“ zu werden. In den 1990er Jahren wurde ihnen ein Rechtsanspruch auf ausreichende Versorgung und Bildung eingeräumt. Seit 2000 haben sie Anspruch auf eine gewaltfreie Erziehung in der Familie. Nimmt man diesen Rechtsanspruch beim Wort, sollten medizinisch sinnlose, das Selbstbestimmungsrecht und die körperliche Unversehrtheit verletzende Genitalbeschneidungen ohnehin obsolet geworden sein – bei Mädchen wie bei Jungen.

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11. Wäre ein Beschneidungsverbot mit einem Eingriff in die Religionsfreiheit verbunden?

Dies ist ein weitverbreitetes Missverständnis: Tatsächlich würde ein Verbot der Zwangsbeschneidung sogar zu einer Stärkung des Rechts auf Religionsfreiheit beitragen, nämlich zur überfälligen Berücksichtigung der Religionsfreiheit der Kinder. Denn die Religionsfreiheit der Eltern erstreckt sich nur auf sie selbst – nicht aber auf ihre Kinder, die das Recht haben, ihre eigenen religiös-weltanschaulichen Überzeugungen zu entwickeln, unabhängig davon, was die Eltern glauben.

Zwar ist es für die Kinder trotz Zwangsbeschneidung später möglich, ihre Ursprungsreligion zu verlassen, nichtsdestoweniger bedeutet die religiöse Beschneidung eine lebenslange Kennzeichnung, die von den Betroffenen – abgesehen von allen anderen körperlichen Nachteilen der Vorhautentfernung – als belastend empfunden werden kann. Der Kölner Ex-Muslim Ali Utlu drückte es so aus: „Für mich war es im Nachhinein eine Brandmarkung durch die Religion. Als würde man einer Kuh einen Stempel draufdrücken und sagen: Du gehörst zu meiner Herde.“

Würden religiöse Beschneidungen erst in einem Alter stattfinden, in dem die Betroffenen über den Eingriff selbst entscheiden und seine Folgen abschätzen können, würden solche Gefühle der Fremdbestimmtheit vermieden werden. Dies wäre ein wichtiger Schritt in Richtung größerer individueller Selbstbestimmung und Religionsfreiheit. Doch offensichtlich ist ebendies nicht von allen gewollt. In einer Mitte August 2012 ausgestrahlten Folge der Sendung „Menschen bei Maischberger“ plädierte der muslimische Arzt und Beschneidungsspezialist Sebastian Isik dafür, die Beschneidung möglichst frühzeitig vorzunehmen, da 16-Jährige dem Eingriff wohl mehrheitlich nicht mehr zustimmen würden. Diese unfreiwillig selbstentlarvende Aussage zeigt deutlich, wie sehr die gängige Praxis der Beschneidung über die Selbstbestimmungsrechte der betroffenen Jungen hinweggeht.

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12. Ist es nicht problematisch, dass die Beschneidungsdebatte ausgerechnet auf deutschem Boden geführt wird?

Selbstverständlich ist dies vor dem Hintergrund der antisemitischen Exzesse der deutschen Geschichte höchst problematisch! Wohl allen Kinderrechtsaktivisten wäre es lieber gewesen, wenn die öffentliche Debatte über die Knabenbeschneidung in einem anderen Land angestoßen worden wäre. Denn dies hätte viele unergiebige Diskussionen erspart. Aber nachdem die Debatte infolge des Kölner Beschneidungsurteils entfacht war, konnten Kinderrechtsaktivisten angesichts der klaren Faktenlage gar nicht anders, als gegen die Beschneidung Stellung zu beziehen.

Natürlich richtet sich die humanistische Kritik an der Beschneidung nicht, wie behauptet wurde, gegen Juden, zumal es ja nicht zuletzt auch jüdische Männer waren (siehe u.a. die Gruppe „Jews against Circumcision“), die die entscheidenden Impulse dafür gaben, die Praxis der Knabenbeschneidung zu überdenken. Auch wenn es vereinzelt politische Kräfte gab, die versuchten, die Beschneidungsdebatte für antisemitische Propaganda zu nutzen, so disqualifiziert dies in keiner Weise die Anliegen von Kinderrechtlern, Kinderschutzorganisationen und Kinderärzten! Selbstverständlich lehnen sie Antisemitismus (wie auch Antimuslimismus) in aller Entschiedenheit ab! Allerdings müssen sie darauf bestehen, dass Wahrheiten (hier: die Erkenntnis, dass die Zwangsbeschneidung gegen das Selbstbestimmungsrecht und die körperliche Unversehrtheit des Kindes verstößt) nicht schon deshalb zur Lüge werden, weil Lügner sie missbrauchen. Es wäre doch absurd, wenn man die Knabenbeschneidung trotz allen Gegenargumenten begrüßen müsste, nur weil Antisemiten sie ablehnen! Dies wäre im Übrigen auch eine politisch falsche Strategie. Denn will man menschenverachtende Ideologien wie Antisemitismus oder Antimuslimismus wirksam bekämpfen, so ist man gut beraten, das Wirkungsfeld der jeweiligen Demagogen dadurch einzudämmen, dass man ihnen bewusst in den wenigen Punkten Recht gibt, in denen sie Recht haben. Ansonsten nämlich feiern sie mit halben Wahrheiten ganze Erfolge. Auch dies ist eine Lehre aus der Geschichte – nicht nur aus der deutschen!

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13. Würde ein offizielles Verbot der rituellen Knabenbeschneidung nicht zwangsläufig zu einem Anstieg gefährlicher illegaler Beschneidungen führen?

Wäre dieses Argument stichhaltig, müsste es logischerweise auch für das allgemein akzeptierte Verbot der weiblichen Beschneidung gelten. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass staatliche Verbote eine wichtige Signalfunktion haben. In der Regel veranlassen sie Menschen dazu, ihr traditionelles Verhalten zu überdenken und an die neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten anzupassen. Gerade auf dem Gebiet der Knabenbeschneidung gibt es hierfür ein gutes Beispiel: So führte die offizielle Ächtung der Vorhautbeschneidung in der Sowjetunion eben nicht zu einem Anstieg heimlicher Eingriffe, sondern zu einer nachhaltigen Veränderung des Verhaltens der russischen Juden. Wie nachhaltig diese Verhaltensänderung ist, belegt die Tatsache, dass sie auch zwei Jahrzehnte nach ihrer Emigration nach Deutschland mehrheitlich keine Beschneidungen mehr vornehmen (was nebenbei auch zeigt, dass die Behauptung, ohne Beschneidung sei jüdisches Leben in Deutschland nicht möglich, unsinnig ist!).

Ein offizielles Verbot der medizinisch nicht indizierten Knabenbeschneidung hätte noch einen weiteren Vorteil: Es würde nämlich diejenigen, die die Beschneidung im Interesse ihrer Kinder ohnehin ablehnen, dabei unterstützen, diese Entscheidung gegenüber den Traditionalisten innerhalb der eigenen Familie zu begründen. Vor allem hätte ein solches Verbot auch eine Signalwirkung für das Ausland: Könnte Deutschland sich dazu durchringen, die Kinderrechte zu stärken und medizinisch unnötige Knabenbeschneidungen zu unterbinden, würden diesem Beispiel bald andere Länder folgen. Dies wiederum könnte dazu führen, dass die Quote der Genitalbeschneidungen auch in jenen Weltregionen zurückgeht, in denen die zirkumzisionsbedingte Verletzungs- und Mortalitätsrate aufgrund mangelhafter medizinischer Rahmenbedingungen besonders hoch ist (siehe Frage 7).

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14. Ist die Debatte um die Beschneidung nicht Ausdruck eines „aggressiven Säkularismus“, der die Rechte religiöser Minderheiten missachtet? Beweist nicht gerade das Engagement der Giordano-Bruno-Stiftung, dass es hier gar nicht um Kinderrechte geht, sondern um einen fundamentalistischen Kampf gegen die Religion?

Dieser Vorwurf wurde im Zuge der Beschneidungsdebatte erstaunlich oft in den deutschen Leitmedien erhoben. Es hieß, Atheisten würden immer aggressiver in die Gesellschaft hineinwirken, sich als Sachwalter der Menschenrechte aufspielen und das Thema „Kinderrechte“ dazu missbrauchen, um die Rechte religiöser Minderheiten zu beschneiden. Der Journalist Alexander Kissler stellte in der „Jüdischen Allgemeinen“ sogar die Hypothese auf, dass der Arzt, der den Fall des beschnittenen muslimischen Jungen der Polizei bekannt machte und damit das Kölner Beschneidungsurteil heraufbeschwor, aus der „neoatheistischen Szene“ stammt. Mehr noch: Aus der Zusammenarbeit der Giordano-Bruno-Stiftung, die Kissler „als Speerspitze des deutschen Neoatheismus“ bezeichnete, mit dem Strafrechtsprofessor Holm Putzke, der als erster deutscher Jurist einen Grundsatzartikel über die strafrechtliche Relevanz der Knabenbeschneidung verfasst hatte, leitete Kissler ab, dass es sich bei der Beschneidungsdebatte möglicherweise um ein gezieltes, antireligiöses Komplott gehandelt habe: „Die antireligiösen Kräfte schießen zusammen. Antisemitismus wird zum lässlichen Kollateralschaden, nicht intendiert, aber wohl geduldet.“

Was ist zu diesen Unterstellungen zu sagen? Zunächst einmal wissen wir nicht, wer die Polizei in dem fraglichen Fall informierte. Somit sind Spekulationen über die weltanschaulichen Präferenzen dieser Person unergiebig. Klar ist aber, dass sich die Giordano-Bruno-Stiftung keineswegs als „Speerspitze des deutschen Neoatheismus“ und auch nicht als „antireligiös“ versteht, sondern als „Denkfabrik für Humanismus und Aufklärung“. Wir treten zwar entschieden für eine rationale Weltsicht sowie für eine Stärkung der Menschenrechte ein – dies muss allerdings nicht notwendigerweise mit religiösen Überzeugungen kollidieren. Ebenso klar ist, dass Holm Putzke längst schon Maßgebliches über die Frage der Knabenbeschneidung publiziert hatte, bevor er mit der Giordano-Bruno-Stiftung in Kontakt kam.

Von einem antireligiösen Komplott kann also gar nicht die Rede sein! In der Beschneidungsdebatte ging es auch niemals um eine Schwächung der Religionsfreiheit, sondern vielmehr um deren Stärkung im Rahmen der übrigen Verfassungswerte (siehe Frage 11). Vor allem aber ging und geht es um eine Stärkung der Kinderrechte, denen noch immer nicht die Bedeutung zugemessen wird, die ihnen zukommen müsste. Für Kinderrechte hat sich die Giordano-Bruno-Stiftung auch schon in der Vergangenheit mehrfach eingesetzt, beispielsweise im Zuge des großen „Heimkinder-Protests“ von 2010, bei dem die „schwarze Pädagogik“ in staatlichen wie christlichen Heimanstalten kritisiert wurde, oder im Rahmen verschiedener Kampagnen gegen weibliche Genitalverstümmelung. Daher war es naheliegend, dass sich die Stiftung auch in die Beschneidungsdebatte einschaltete, nachdem sie sich mit den empirischen Fakten (siehe die Fragen 1-8) eingehend befasst hatte.

Dass es sich dabei niemals um einen „fundamentalistischen Kampf gegen die Religion“ handelte, hätte man allein schon daran erkennen können, dass sich unsere Pro-Kinderrechte- und Anti-Beschneidungskampagne explizit gegen sämtliche Formen der medizinisch unnötigen Knabenbeschneidung richtet – eben nicht nur gegen die einschlägigen religiösen Rituale. Schließlich ist es für die Betroffenen egal, welche Motive letztlich für den Eingriff ursächlich sind. Denn so oder so werden ihre Rechte auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit verletzt. Ob dies nun aus ästhetischen, kulturellen, masturbationsprophylaktischen, „hygienischen“ oder religiösen Gründen geschieht, ändert nichts an dem grundsätzlichen Tatbestand.

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Verfasser: Dr. Michael Schmidt-Salomon, Philosoph und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung, in Zusammenarbeit mit dem „AK Kinderrechte“ (Mitglieder am Tag des Kampagnenstarts, 22.8.2012: Evelin Frerk, Anja Grosse, Mario Lichtenheldt, Dr. Fiona Lorenz, Katharina Micada, Philipp Möller, Dr. Sabine Müller, Frank Nicolai, RA Walter Otte, Prof. Dr. Holm Putzke, Dr. Michael Schmidt-Salomon, Nicolai Sprekels)

Anmerkung: Der Verfasser dieses Textes wurde als 17-Jähriger auf eigenen Wunsch aufgrund medizinischer Indikation beschnitten. Er kennt daher die Probleme der Zirkumzision sowie die Rationalisierungsstrategien beschnittener Männer nicht nur aus der Literatur, sondern auch aus eigener Erfahrung.

Quellen: Leider sind nicht alle Texte und Studien, die für die Erstellung dieses FAQ-Dokuments herangezogen wurden, im Internet frei verfügbar. Diese Texte/Studien sind jedoch für jeden zugänglich:  Stanford University, Medizinische Fakultät: Komplikationen der Beschneidung / Königlich Niederländische Ärztevereinigung (KNMG): Standpunkt zur nichttherapeutischen Beschneidung minderjähriger Jungen / John Warren (Royal College of Physicians, London): Körperliche Auswirkungen der Beschneidung / DaiSik Kim / Myung-Geol Pang: The effect of male circumcision on sexuality (pdf) / Dao M. Nguyen (et al): Risk Factors for Neonatal Methicillin‐Resistant Staphylococcus aureus Infection in a Well‐Infant Nursery / Dan Bollinger: Lost Boys – An Estimate of U.S. Circumcision-related Infant Deaths  / CIRP: Circumcision Deaths. Weitere Hinweise finden sich auf der Kampagnenwebsite www.pro-kinderrechte.de in den Rubriken „>Materialien“, „Links“ und „Presse“.

Nachtrag zum Thema „HIV und Beschneidung“: Tatsächlich scheint die Beschneidung einen gewissen Schutz vor HIV-Infektionen bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr zu bieten. Wirklichen Schutz bietet jedoch nur das Kondom! Da beschnittene Männer Kondome wegen des erlittenen Sensibilitätsverlustes seltener verwenden, ist es kein Wunder, dass sie in 10 von 18 afrikanischen Ländern häufiger HIV-Träger sind als Männer mit intakter Vorhaut (siehe hierzu den USAID-Bericht von 2009: http://www.measuredhs.com/pubs/pdf/CR22/CR22.pdf). Außerdem besteht die Gefahr (siehe Frage 8), dass Jungen während der Beschneidung mit HIV infiziert werden. Ohnehin darf das Infektionsrisiko bei der Beschneidung nicht unterschätzt werden. In den westlichen Industrienationen sind multiresistente Erreger eine lebensbedrohliche Gefahr (siehe die oben zitierte Studie zu MRSA), auch Herpesinfektionen können für Säuglinge tödlich enden, wie dieser in der New York Times dokumentierte Fall belegt: http://www.nytimes.com/2012/03/08/nyregion/infants-death-renews-debate-over-a-circumcision-ritual.html

Nachtrag zum Thema „Smegma“: Auch wenn die biologische Funktion des Smegma erwiesen ist, spricht selbstverständlich nichts gegen Intimhygiene, die nicht nur aus medizinischen Gründen (altes Smegma erzeugt nun einmal unangenehme Gerüche) dringend anzuraten ist (reines Wasser genügt!). Dies gilt natürlich nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen, die, was erstaunlich viele Menschen nicht zu wissen scheinen, ebenfalls Smegma ausbilden. Ein guter Grund für Genitalbeschneidungen ist die Smegmabildung jedenfalls nicht – weder bei Mädchen noch bei Jungen.

Nachtrag zur Studie der „American Academy of Pediatrics“: Im August 2012 veröffentlichte die „Task Force on Circumcision“ einen Report, der in der deutschen Presse breit kommuniziert wurde (hier findet sich das Originaldokument der Studie). Bemerkenswerterweise kommen die amerikanischen Ärzte zu signifikant anderen Ergebnissen als ihre internationalen Kollegen.
Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Wahrscheinlich handelt es sich hier um ein Problem der kognitiven Dissonanz (eine Ärztevereinigung, die über Jahrzehnte Beschneidung massiv propagiert hat, wird sich schwer damit tun, den Eingriff scharf zu kritisieren), möglicherweise müssen hier auch ökonomische Aspekte berücksichtigt werden (immerhin ist Knabenbeschneidung
in den USA ein 2-Milliarden-Dollar-Geschäft, von dem viele profitieren).
Analysiert man die amerikanische Studie, stellt man schnell fest, dass die Autoren bei allem Bemühen um wissenschaftliche Präzision einige schwerwiegende Probleme übersehen haben (siehe hierzu auch diese Erwiderung). So dokumentieren sie ausführlich die Vorteile der Beschneidung bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr, thematisieren aber nicht, dass beschnittene Männer wegen des erlittenen Sensibilitätsverlustes seltener Kondome benutzen, was einer der Gründe dafür ist, dass sie insgesamt häufiger mit sexuell übertragbaren Krankheiten belastet sind. Ohnehin bagatellisieren die Autoren die sexuellen Folgen der Beschneidung. Zwar erwähnen sie die maßgebliche koreanische Studie an spätbeschnittenen Männern, lassen sie jedoch (wie vergleichbare andere Studien) nicht in die Gesamtbewertung einfließen. Das Gleiche gilt für die schwerwiegenden Komplikationen der Beschneidung. So wird in dem Report zwar angeführt, dass es Todesfälle bei der Beschneidung gebe. Da es sich hierbei jedoch um seltene Einzelfälle handle, meinen die Autoren, sie nicht berücksichtigen zu müssen. Hier zeigt sich, wie fatal es ist, dass die direkten wie indirekten Folgen der Beschneidung (Infektionen, Komplikationen nach Betäubung/Narkose) bislang nicht systematisch dokumentiert werden. Von der Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses und den medizinischen Problemen, die damit verbundenen Folgen zu vermeiden, scheinen die amerikanischen Ärzte nicht einmal gehört zu haben. Insgesamt bietet die Studie der „Task Force on Circumcision“ also keine stichhaltigen Argumente für die Beschneidung, sie ist vielmehr ein Musterbeispiel dafür, wie sehr kulturelle Vorbehalte den Blick auf empirische Fakten trüben können.

V.i.S.d.P.: Dr. Michael Schmidt-Salomon, c/o gbs-Büro Elke Held, Im Gemeindeberg 21, D-54309 Newel, Tel: +49 (0)651 9679503, Mail: presse(at) giordano-bruno-stiftung(punkt)de

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