Beschneidung als familiär tradierte Gewalt

Die Debatte um das elterliche Recht auf Beschneidung ihrer Söhne ähnelt der Debatte um das elterliche Züchtigungsrecht, als im Jahr 2000 in Deutschland das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung verabschiedet wurde – gegen die Stimmen von CDU/CSU. Damals wie heute beharren Eltern auf ihrem angestammten Recht.

Als 1998 in Großbritannien die Körperstrafe an Schulen abgeschafft werden sollte, bildete sich eine Initiative christlicher Privatschulen, die dagegen mit „freier Religionsausübung“ argumentierte.

Sowohl die Bibel als auch der Koran bieten Rechtfertigungsgründe und Vorschriften für die „Züchtigung“, also körperliche Gewalt an Kindern.

Was veranlasst Eltern dazu, darauf zu beharren, ihren Kindern Schmerzen zuzufügen? Hier kommt ein einfacher aber grausamer Mechanismus zum Zug: Eltern fügen ihren Kindern das zu, was ihnen selbst widerfahren ist. Durch die selbst erfahrene Beschneidung sind Väter unempfänglich für das Leid, das sie ihren Söhnen zufügen.

Doch auch viele Mütter befürworten die Beschneidung ihrer Söhne. Deren Empathielosigkeit resultiert vermutlich aus der körperlichen Gewalt, die sie als Kind erlebt haben. Denn Religionsgemeinschaften, die Beschneidung vorschreiben, befürworten auch körperliche Gewalt an Kindern („Züchtigung“ genannt). Selbst wenn die Mutter gegen die Beschneidung ihres Sohnes ist, so kann sie sich in ihrem patriarchalischen Umfeld schwerlich durchsetzen.

Die Beschneidung ist also als familiär tradierte Gewalt einzuordnen, der man vor allem durch Aufklärung begegnen muß.

Zur grausamen Tradition der Beschneidung „nein“ zu sagen bedeutet eine große Herausforderung. Religion und Eltern müssen infrage gestellt werden, was für viel Gläubige sehr verunsichernd ist und Ausgrenzung bedeuten kann. Dazu kommt das schmerzvolle Eingeständnis, dass die eigene Beschneidung womöglich einen Verlust für das gesamte Leben nach sich zog. Dies alles inmitten einer Glaubensgemeinschaft von Andersdenkenden durchzuziehen erfordert enormes Durchhaltevermögen.

Der Bruch mit der Tradition der Beschneidung ähnelt auch dem Bruch mit der Tradition der körperlichen „Züchtigung“. Der Ablösungs- und Aufarbeitungsprozeß des Einzelnen ist nahezu gleich. Ebenso der Widerstand der ewig Gestrigen.

Es bedarf in allen betroffenen Religionsgemeinschaften einiger mutiger Pioniere, die es wagen, das Tabu zu brechen, um den Weg für eine Abschaffung der tradierten Gewalt zu bahnen.

Erwähnt sei hier die jüdische Bewegung Jews against circumcision, die die Beschneidung durch „Brit Shalom“, eine symbolische Zeremonie ersetzt.

Zum Weiterlesen:
Alice Miller: Mechanismen der Gewalt